Die vordere Schublade - Klinische Anwendung und Ergebnisinterpretation

Um eine Person mit Kniegelenksproblematik effektiv untersuchen zu können, braucht es ein bestmögliches Verständnis für die diagnostische Güte typischer manueller Spezialtests. Diese Einsicht hat mich dazu motiviert, mich auf die entsprechende Fachliteratur einzulassen. Nachfolgend möchte ich meine gewonnenen Erkenntnisse zur vorderen Schublade zusammenfassen. Einen Beitrag zum Lachman Test habe ich bereits in sehr ähnlicher Weise verfasst. Zwischen beiden Texten gibt es starke Überschneidungen, da sich beide ähnlicher Literatur bedienen. 

Wie bereits im Artikel zum Lachman Test, möchte ich auch an dieser Stelle festhalten, dass ich kein Statistiker, Forscher oder besonders erfahrener Spezialist auf dem Gebiet der manuellen Diagnostik am Kniegelenk bin. Ich bin Physiotherapeut mit orthopädischem Schwerpunkt und ich recherchiere aktuell zu Diagnostik und Physiotherapie bei verschiedenen Kniegelenksproblematiken. Dieser Artikel ist mein Versuch, diagnostische Kennzahlen aus der aktuellen Sekundärliteratur mit den mir zur Verfügung stehenden Ressourcen pragmatisch aufzuarbeiten und praktisch anwendbar zu machen. Er stellt keine systematische oder vollständige Analyse dar.

Ich möchte auch darauf hinweisen, dass es, um Literatur zur Güte von klinischen Tests verstehen zu können, einiger Grundbegriffe bedarf. Dazu gehören: Validität, Sensitivität (Sn.), Spezifität (Sp.), Positive Predictive Value (PPV) oder Positiver Vorhersagewert, Negative Predictive Value (NPV) oder Negativer Vorhersagewert, Positive Likelihood Ratio (LR+), Negative Likelihood Ratio (LR-), Reliabilität, Kappa Wert (k) und ein paar mehr. Diese Begriffe sind online vielerorts auf Englisch und Deutsch besser erklärt, als ich es hier in diesem Rahmen könnte.

Der Test

Die vordere Schublade testet die Stabilität des Kniegelenks bei anteriorer Translation der Tibia gegen den Femur in 90° Knieflexion und gibt damit Aufschluss über eine mögliche Verletzung des vorderen Kreuzbandes (VKB) (Bronstein & Schaffer, 2017).

Detaillierte und gut verständliche Instruktionen zur genauen Durchführung der vorderen Schublade sind in folgenden Videos und Artikeln zu finden: LaPrade (2012), Physiotutors (2015), Bronstein und Schaffer (2017), The Knee Resource (2017) und Koster et al. (2018). 

Ein positives Testergebnis

Die vordere Schublade ist positiv, wenn ein exzessives anteriores Gleiten der Tibia gegen das Femur im Seitenvergleich festgestellt werden kann oder wenn dieses Gleiten im Seitenvergleich einen deutlich weicheren Endpunkt aufweist (Bronstein & Schaffer, 2017).

Diagnostische Güte der vorderen Schublade

Decary et al. (2017)

Meine Ausarbeitung beginnt mit einer Beleuchtung der Übersichtsarbeit von Decary et al. aus dem Jahr 2017, die einen Überblick über systematische Reviews und Metaanalysen (SRs/MAs) zur diagnostischen Validität verschiedener Tests am Kniegelenk gibt. In der Studie werden fünf Arbeiten zur diagnostischen Güte der vorderen Schublade untersucht und mittels AMSTAR Tool bewertet (das AMSTAR 2 Tool hatten die Autoren noch nicht zur Verfügung): Solomon et al. (2001) [AMSTAR rating 3/11], Jackson et al. (2003) [rating 2/11], Scholten et al. (2003) [rating 6/11], Benjaminse et al. (2006) [rating 8/11] und van Eck et al. (2013) [rating 6/11]. Vier dieser Arbeiten nutzen Arthroskopie oder MRT als Referenzstandard, die Studie von Jackson und Kollegen erlaubt Arthroskopie, MRT, Röntgen oder klinische Diagnose als Referenz. Die einzelnen SRs und MAs unterscheiden sich deutlich in Bezug auf die Inklusions- und Exklusionskriterien (z.B: akute vs. chronische VKB-Verletzung, Begleitverletzungen, Unterscheidung zwischen Partial- und Komplettrupturen, etc.). 

Die Studie von Benjaminse et al. (2006) erreicht mit einem Rating von 8/11 Punkten die höchste Punktzahl in der AMSTAR-Qualitätsbewertung. Die Autorengruppe ermittelt für die vordere Schublade, bei Exkludieren von anästhesierten Probanden und Zusammenfassen von akuten und chronischen Verletzungen, eine Sn. von 55% [95% CI: 52–58%], eine Sp. von 92% [95% CI: 90–94%], eine LR+ von 7,3 [95% CI: 3,5–15,2] und eine LR- von 0,50 [95% CI: 0,40–0,60]. Auffällig sind die gravierend schlechtere Sn., Sp., LR+ und LR- der vorderen Schublade bei akuten Verletzungen verglichen mit chronischen Verletzungen in der Subgruppenanalyse. In der Studie werden Daten von Probanden mit Partialrupturen, Komplettrupturen und Begleitverletzungen zusammengefasst.

Die restlichen vier Studien mit Daten zur vorderen Schublade in Decary et al. (2017) geben Punktschätzer zur Sn. zwischen 38% und 62% und zur Sp. zwischen 67% und 88% an. Zwei Arbeiten geben Punktschätzer zur LR+ an. Diese liegen bei 3,8 und 4,52 (Solomon et al., 2001; van Eck et al., 2013). Scholten et al. (2003) ermitteln keinen gepoolten Wert für die LR+, Werte in der von ihnen untersuchten Primärliteratur liegen aber zwischen 1,7-87,9. LR- Punktschätzer liegen in zwei Arbeiten bei 0,3 und 0,67 (Solomon et al., 2001; van Eck et al., 2013). Scholten et al. (2003) berechnen auch hier keinen Punktschätzer, beschreiben aber Werte zwischen 0,10-0,80. 

Die Ergebnisse von Decary et al. (2017) deuten auf eine insgesamt geringere Sn. und Sp. der vorderen Schublade im Vergleich zum Lachman Test hin. Die Daten lassen auch vermuten, dass die vordere Schublade eine geringere Sp. als der Pivot shift Test haben könnte. Es scheint, als hätten Decary et al. (2017) nur Daten von Testungen an wachen Probanden in ihrer Arbeit ausgewertet, dieser Umstand wird von den Autoren aber nicht explizit angesprochen. Die Arbeiten von Jackson et al. (2003) und Scholten et al. (2003) lassen dieses relevante Detail ebenfalls unerwähnt.

Wie auch schon in meinem Beitrag zum Lachman Test, sollen nachfolgend eine Reihe weiterer relevanter Übersichtsarbeiten zu der Thematik Erwähnung finden. Diese sind ebenfalls qualitativ aufgearbeitet.

Swain et al. (2014)

Die SR von Swain et al. aus dem Jahr 2014 beschäftigt sich mit der diagnostischen Genauigkeit von manuellen VKB-Tests am Kniegelenk. Die Arbeit ist in der Analyse von Decary et al. (2017) nicht inkludiert. Swain et al. (2014) argumentieren, dass die von ihnen gefundene Literatur zu heterogen für eine MA ist und berechnen keine gepoolten Daten. Sechs suffiziente Studien mit Ergebnissen zur vorderen Schublade sind in der Review ausgewertet. Arthroskopie, Arthrotomie und MRT sind Referenzstandards. Laut QUADAS-2 Queckliste erreicht nur eine der Arbeiten ein niedriges Verzerrungsrisiko. Daten von Probanden mit bekannten oder unklaren Begleitverletzungen werden mit ausgewertet. Ebenso sind Ergebnisse von Untersuchungen an anästhesierten Personen in der Analyse eingeschlossen. In der Arbeit wird nicht zwischen akuten und chronischen Verletzungen differenziert. Swain et al. exkludieren jedoch Literatur, in der ein entscheidender Teil der Population bereits vor Anwendung des Indextests eine VKB-Ruptur mittels Referenztest diagnostiziert bekommen hatte. Die ermittelten LR Punktschätzer für die vordere Schublade schwanken in der untersuchten Primärliteratur stark: LR+ 1,9-87,9; LR- 0,23-0,74.

Die Arbeit mit dem niedrigsten Verzerrungsrisiko und gleichzeitig die einzige Studie im Primär-Setting, Wagemakers et al. (2010), liefert folgende Zahlen: LR+ für Partial- und Komplettrupturen 2,0 [95% CI: 1,5-2,6] und LR- für Partial- und Komplettrupturen 0,29 [95% CI: 0,12-0,72]); LR+ für Komplettrupturen 1,9 [95% CI: 1,5-2,6] und LR- für Komplettrupturen 0,23 [95% CI: 0,06-0,84]).

Swain et al. kritisieren die untersuchte Primärliteratur sowie frühere SRs/MAs als methodisch fehlerhaft. Die Autoren sprechen sich gegen einen nachweisbaren Nutzen von individuellen VKB-Tests aus und plädieren für mehr Forschung zu effektiven Kombinationen verschiedener Tests. 

Huang et al. (2016)

Eine SR und MA von Huang et al. (2016) versucht, mit einer breit angelegten Literaturrecherche, einen besonders fundierten Blick auf die Primärliteratur zu der Thematik zu ermöglichen. Letztendlich analysieren die Autoren neun Studien zur vorderen Schublade. Nur die Arbeit von Nickinson et al. (2010) wird nicht bereits in den anderen hier besprochenen MAs ausgewertet. Die Studienqualität wird auch in diesem Fall mit dem QUADAS-2 Tool bewertet. Wieder sind Arthroskopie, Arthrotomie und MRT Referenzstandards. Nur Ergebnisse von Tests an Probanden mit isolierten VKB-Rupturen sind analysiert. Akute und chronische Verletzungen werden gepoolt ausgewertet. Die Autoren formulieren nicht eindeutig, ob nur Daten von wachen Probanden ausgewertet sind (Huang et al., 2016, S.30). Es kann nur erahnt werden, dass die diagnostische Aussagekraft bei Vorliegen von Partial- und Komplettrupturen zusammengefasst ist. 

Huang und Kollegen kommen zu folgenden Ergebnissen: Die vordere Schublade bietet eine höhere Sn. als der Pivot shift Test, aber eine niedrigere als der Lachman Test (gepoolte Sn. vordere Schublade 73% [95% CI: 69–76%]; gepoolte Sn. Lachman 87% [95% CI: 84–90%]), eine ähnliche Sp. wie der Lachman Test (gepoolte Sp. vordere Schublade 93% [95% CI: 91–94%]; gepoolte Sp. Lachman 91% [95% CI: 89–93%]) aber niedrigere Sp. als der Pivot shift Test (gepoolte Sp. Pivot shift 98% [95% CI: 95–99%]). Die gepoolte LR+ und LR- erreichen jeweils 6,79 [95% CI: 3,07–15,05] und 0,29 [95% CI: 0,16–0,52], sind aber dem Lachman Test unterlegen (gepoolte LR+ Lachman 7,68 [95% CI: 3,01–19,60] und gepoolte LR- Lachmann 0,17 [95% CI: 0,11–0,25]).

Koster et al. (2018)

In einer narrativen Review aus dem Jahr 2018 beschreiben Koster et al., dass insgesamt neun SRs die vordere Schublade als diagnostisch schlechter einstufen als den Lachman Test. Auch die Reliabilität der vorderen Schublade bewerten sie auf Basis der Arbeit von Lange et al. (2015) im Vergleich zum Alternativtest als schlechter. Sie empfehlen den Lachman Test als VKB-Test erster Wahl, nicht die vordere Schublade.

Sokal et al. (2022)

In einer rezent veröffentlichten Übersichtsarbeit zur Genauigkeit von VKB-Tests kritisieren Sokal et al. (2022) die Methodik früherer MAs zu der gleichen Thematik und versuchen mit einer bivariaten diagnostischen random-effects MA hochwertigere Ergebnisse zu erhalten. 24 Arbeiten werden dabei von den Autoren mittels QUADAS-2 Tool bewertet und im Rahmen der MA ausgewertet. Arthroskopie, Arthrotomie und MRT sind Referenzstandards. Studien an Probanden unter Anästhesie oder mit multiplen Knieverletzungen sind von dieser Review ausgeschlossen. 

Die berechneten Werte bei Anwendung des bivariaten Modells und Zusammenfassen von Untersuchungen an Probanden mit Partialrupturen, Komplettrupturen, akuten Verletzungen und post-akuten Verletzungen lauten wie folgt: Sn. 83% [95% CI, 77–88]; Sp. 85% [95% CI, 64–95]; LR+ 6,34 [95% CI, 2,32-15,30]; LR- 0,20 [95% CI 0,14-0,30]). Sokal et al. (2022) berechnen damit für die vordere Schublade und den Lachman Test sehr ähnliche Werte. Das Lever sign zeigt in der bivariaten Analyse in der gleichen Kohorte allerdings überlegene Werte (Sn. 83% [95% CI, 68–92], Sp. 91% [95% CI, 83–95]; LR+ 9,66 [95% CI, 5,01-17,30]; LR- 0,18 [95% CI 0,09-0,34]).

Interessant sind noch Ergebnisse aus der univariaten Analyse für Partialrupturen, Komplettrupturen, akute Verletzungen und post-akute Verletzungen: Sn. 75% [95% CI: 61–86]; Sp. 92% [95% CI: 67–99]; LR+ 2,4 [95% CI: 1,58-3,64]; LR- 0,28 [95% CI: 0,20-0,42].

Tanaka et al. (2022)

In einer weiteren SR und MA zur diagnostischen Genauigkeit von VKB-Tests versuchen Tanaka et al. (2022) die Testgenauigkeit im Akut-Setting (Verletzung nicht älter als 6 Wochen) zu ermitteln. MRT und Arthroskopie werden als Referenzstandard akzeptiert. Insgesamt werden 8 Arbeiten mit dem QUADAS-2 Tool bewertet und analysiert. Daten von Untersuchungen an Probanden mit Gonarthrose, diagnostizierter Laxität und Meniskusverletzungen sind nicht analysiert. Arthrometrie ist als weiteres Ausschlusskriterium angegeben, zumindest eine Studie mit anästhesierten Probanden ist aber in der Analyse inkludiert. Daten von Probanden mit Partial- und Komplettrupturen sind gepoolt. 

Für die vordere Schublade ermitteln die Autoren folgende Ergebnisse: Sn. 78% [95% CI, 73–82]; Sp. 91% [95% CI, 86–95]; LR+ 6,70 [95% CI, 1,96-22,86]; LR- 0,23 [95% CI, 0,09-0,63]. Die vordere Schublade erreicht eine etwas niedrigere LR+ als der Lachman Test, die LR-s sind quasi ident. Der Lever sign Test erreicht eine minimal niedrigere LR- (LR- Lever sign 0,21 [95% CI, 0,11-0,40]) und der Pivot shift Test eine deutlich höhere LR+ (LR+ Pivot shift 11,60 [95% CI, 5,31-25,33]) als die vordere Schublade und der Lachman Test. Die Autoren empfehlen deswegen den Lever sign Test für den Ausschluss einer VKB-Ruptur und den Pivot shift Test für das Bestätigen einer Ruptur. Die Autoren diskutieren, dass eine Kombination aus allen vier gängigen VKB-Tests (vordere Schublade, Lachman Test, Pivot shift Test und Lever sign Test) die diagnostische Genauigkeit der physischen Untersuchung weiter verbessern könnte.

Huang et al. (2022)

In der neuesten SR und MA zu der Thematik untersuchen Huang und Kollegen die Güte verschiedener manueller Tests in der Diagnostik von VKB-Verletzungen. MRT und Arthroskopie sind laut Abstract erwünschte Referenzstandards, nicht alle eingeschlossenen Arbeiten erfüllen diese Vorgaben. Es werden ohne Begründung nur Arbeiten mit Veröffentlichung zwischen dem 1.Jänner 2010 und dem 1.Mai 2021 inkludiert. Ob und wie Daten von wachen und anästhesierten Probanden, von Testungen mittels Arthrometer, von Testungen an Probanden mit Begleitverletzungen, akuten oder chronischen Verletzungen sowie mit Komplett- oder Partialrupturen zusammengefasst werden, wird für mich nicht nachvollziehbar beschrieben. Die Studienqualität wird mit dem QUADAS-2 Tool bewertet. Es sind 10 Artikel mit Daten zur vorderen Schublade ausgewertet.

Folgende Kennzahlen ergeben sich für die vordere Schublade: Sn. 64% [95% CI: 61-68], Sp. 87% [95% CI: 84-90], LR+ 3,57 [95% CI: 2,13-5,96], LR- 0,44 [95% CI: 0,32-0,59].

Reliabilität der vorderen Schublade

Anschließend möchte ich noch zwei relativ neue Übersichtsarbeiten zur Reliabilität von VKB-Tests ansprechen.

Decary et al. (2016)

Eine SR aus dem Jahr 2016 von Decary und Kollegen untersucht unter anderem die Reliabilität der vorderen Schublade. Daten aus neun adäquaten Primärstudien an Probanden mit post-akuten Knieverletzungen werden ausgewertet. Die Studienqualität wird mittels QAREL-Checkliste bewertet. Es wird nicht zwischen Partial- und Komplettrupturen differenziert. Untersuchungen an Probanden mit Begleitverletzungen werden von der Review nicht explizit ausgeschlossen. Ob Daten rein von Tests an wachen Personen stammen, wird nicht angesprochen.

Die Autoren identifizierten zwei Arbeiten mit Ergebnissen zur vorderen Schublade an Probanden mit post-akuten Knieverletzungen (Peeler et al., 2010; Yoon et al., 2014). Basierend auf der QAREL-Checkliste muss die Qualität beider Studien als niedrig eingestuft werden (jeweils 2/11 und 3/11 Punkten). Die Arbeiten zeigen moderate bis exzellente inter-rater Reliabilität für die vordere Schublade (P0=0,57; k=0.96). Intra-rater Reliabilität wurde in der inkludierten Primärliteratur nicht ermittelt. Decary et al. (2016) argumentieren, dass die vordere Schublade auf Basis der untersuchten Literatur als reliabel angesehen werden könnte.

Lange et al. (2015)

Eine frühere systematische Übersichtsarbeit zu dem gleichen Thema von Lange et al. (2015) kann aus der damaligen Primärliteratur keine Schlüsse zur Reliabilität der vorderen Schublade ziehen. Ergebnisse aus Testungen mit Arthrometer und Untersuchungen an anästhesierten Probanden sind von dieser Review ausgeschlossen. In der Arbeit sind allerdings Testergebnisse von Personen mit akuten und chronischen Verletzungen, partiellen und kompletten VKB-Rupturen sowie von Probanden mit und ohne Begleitverletzungen am Knie zusammengefasst.

Bedeutung für den klinischen Alltag

Auch wenn dieser Beitrag keine systematische oder gar vollständige Analyse der existierenden Literatur darstellt und meine Statistikkenntnisse fairerweise als amateurhaft beschrieben werden müssen, so würde ich für mich an dieser Stelle doch ein paar vertretbare Schlüsse für das eigene klinische Handeln ziehen.

Vorweg möchte ich ansprechen, dass die beleuchteten Arbeiten unterschiedliche Inklusions- und Exklusionskriterien anwenden und somit unterschiedliche Kohorten untersuchen. Deutliche Variation gibt es im Umgang mit folgenden Faktoren: (1) vergangene Zeit seit Trauma, (2) Partialrupturen, (3) Begleitverletzungen und (4) Anästhesie. Versucht man trotzdem eine möglichst allgemeingültige und universell anwendbare Handlungsgrundlage zu formulieren, so kann folgende Aussage getätigt werden: Basierend auf Daten aus Übersichtsarbeiten ab 2001 und später kann ein positives Ergebnis bei der vorderen Schublade am Kniegelenk als Indiz für eine Verletzung des VKBs angesehen werden (Solomon et al., 2001; Jackson et al., 2003; Scholten et al., 2003; Benjaminse et al., 2006; van Eck et al., 2013; Huang et al., 2016; Decary et al., 2017; Koster et al., 2018; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022). Nach Durchsicht der gefundenen Sekundärliteratur kann dabei ein kleiner bis moderater Shift in prä- zu post-Test Wahrscheinlichkeit (bei Einteilung nach Jaeschke et al., 1994) erwartet werden (Solomon et al., 2001; Jackson et al., 2003; Scholten et al., 2003; Benjaminse et al., 2006; van Eck et al., 2013; Huang et al., 2016; Decary et al., 2017; Koster et al., 2018; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022). Die diagnostische Genauigkeit eines negativen Testergebnisses ist schlechter und erzeugt (bei Einteilung nach Jaeschke et al. 1994) in den bereits zitierten Übersichtsarbeiten mehrheitlich einen kleinen Shift in prä- zu post-Test Wahrscheinlichkeit. Grund für die vergleichsweise reduzierte Aussagekraft eines negativen Testergebnisses könnte eine erhöhte falsch-negativ Rate bedingt durch eine Schutzspannung der ischiocruralen Muskulatur (Koster et al., 2018) oder ein Türstopper-Effekt des medialen Meniskushinterhorns sein (Bronstein & Schaffer, 2017). 

Aus der besprochenen Literatur kann meiner Meinung nach nicht herausgelesen werden, ob die vergangene Zeit seit dem Trauma die Testgüte beeinflusst. Während Benjaminse et al. (2006) und Sokal et al. (2022) schlechtere Testperformance bei akuten Verletzungen ermitteln, zeigen Tanaka et al. (2022) keine unterlegenen Werte bei akuten Verletzungen im Vergleich zu Analysen mit gemischten Kohorten (akut und chronisch gepoolt) (Huang et al., 2016; Sokal et al., 2022). Ebenso lässt sich nicht ableiten, ob Begleitverletzungen oder das Ausmaß der VKB-Ruptur (partial oder komplett) zu besserer oder schlechterer Testgüte führen. Mir ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass rein theoretisch jede Form von Begleitverletzung am Kniegelenk das Potenzial hat, die Aussagekraft der vorderen Schublade zu beeinflussen.

Für ein Beurteilen der Test Reliabilität ist aus meiner Sicht mehr Forschung notwendig. Die Ergebnisse aus den zwei beleuchteten Übersichtsarbeiten sind aus meiner Sicht in Umfang und Qualität nicht ausreichend für eine haltbare Schlussfolgerung (Lange et al., 2015; Decary et al., 2016). 

Wie können diese Erkenntnisse klinisch anwendbar gemacht werden? 

Wie schon im Artikel zum Lachman Test kann auch an dieser Stelle auf die Faustregel von McGee (beschrieben in McGee (2002)) zurückgegriffen werden. Ohne großen Rechenaufwand können mit ihr aus LRs prozentualen Veränderungen von prä- zu post-Test Wahrscheinlichkeit geschätzt werden.

Auf Basis der besprochenen Literatur ergeben sich bei Testung von wachen PatientInnen mit akuter oder post-akuter VKB-Verletzung, Partial- oder Komplettruptur, ohne außergewöhnlich ausgeprägte multidirektionale Instabilität am Kniegelenk folgende pragmatische Richtwerte: Ein positives Ergebnis bei der vorderen Schublade erhöht die Wahrscheinlichkeit auf eine VKB-Ruptur um rund 30%; ein negatives Ergebnis bei der vorderen Schublade verringert die Wahrscheinlichkeit auf eine VKB-Ruptur um rund 25%. Diese Werte sind bewusst grob geschätzt und können nur als Anhaltspunkte im “clinical reasoning”-Prozess dienen. Die Qualität der einzelnen Literaturarbeiten wird bei diesen Schätzwerten nicht berücksichtigt. Zu erwähnen sei an dieser Stelle auch, dass bei der Faustregel nach McGee (2002) ein durchschnittlicher Fehler von 4% und maximaler Fehler von 10% bei prä-Test Wahrscheinlichkeiten zwischen 10% - 90% in Kauf genommen werden.

Wie schneidet die vordere Schublade im Vergleich zu anderen VKB-Tests ab?

Generell kann konkludiert werden, dass der Lachman Test der vorderen Schublade in Bezug auf die Testgüte bzw. diagnostische Genauigkeit aktuell leicht überlegen scheint (Huang et al., 2016; Decary et al., 2017; Koster et al., 2018; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022). 

Der Lever sign Test schneidet in den neuesten zwei Metaanalysen einmal besser als (Sokal et al., 2022) und einmal ungefähr gleich gut (Tanaka et al., 2022) wie die vordere Schublade ab. 

Um eine VKB-Ruptur zu bestätigen, ist der Pivot shift Test nach jetzigem Wissensstand wahrscheinlich diagnostisch effektiver als die vordere Schublade (Huang et al., 2016; Decary et al., 2017; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022). 

Kann man die diagnostische Aussagekraft bzw. Testgüte von Testkombinationen aus der diagnostischen Aussagekraft von einzelnen VKB-Tests errechnen?

Diese Frage habe ich bereits ausführlich im Artikel zum Lachman Test beantwortet.

Conclusio und Tipps für die Praxis

Die vordere Schublade kann bei Verdacht auf eine VKB-Verletzung eingesetzt werden (Solomon et al., 2001; Jackson et al., 2003; Scholten et al., 2003; Benjaminse et al., 2006; van Eck et al., 2013; Huang et al., 2016; Decary et al., 2017; Koster et al., 2018; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022).

Basierend auf den Likelihood Ratios aus den oben genannten Literaturarbeiten ergeben sich folgende Richtwerte: ein positives Ergebnis bei der vorderen Schublade erhöht die Wahrscheinlichkeit auf das Vorliegen einer VKB-Ruptur um rund 30%; ein negatives Ergebnis bei der vorderen Schublade verringert die Wahrscheinlichkeit auf das Vorliegen einer VKB-Ruptur um rund 25% (Solomon et al., 2001; Jackson et al., 2003; Scholten et al., 2003; Benjaminse et al., 2006; van Eck et al., 2013; Huang et al., 2016; Decary et al., 2017; Koster et al., 2018; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022). Diese Richtwerte können aus meiner Sicht unter folgenden Konditionen angenommen werden: (1) prä-Test Wahrscheinlichkeit zwischen 10-90%, (2) wacher Patient/ wache Patientin, (3) Verdacht auf akute oder post-akute VKB-Verletzung bei Absenz von ausgeprägten Entzündungszeichen, starker Effusion oder Schutzspannung, (4) Verdacht auf partielle oder komplette Ruptur, (5) kein Vorliegen von ausgeprägten multi-ligamentären Begleitverletzungen am Kniegelenk und (6) routinierter Tester.

Wenn möglich, den Test mit genauer Anamnese (Solomon et al., 2001; Wagemakers et al., 2010; Carey & Shea, 2015) und anderen VKB-Tests kombinieren (Swain et al., 2014; Tanaka et al., 2022).

Zuerst die nicht-betroffene Seite als Referenz testen (Schraeder et al., 2010).

An mögliche Auswirkungen von Begleitverletzungen auf die Kniestabilität denken: v.a. Verletzungen an Seitenbändern und hinterem Kreuzband sind zu beachten;

Es muss davon ausgegangen werden, dass die Testgenauigkeit von der Fähigkeit und Erfahrung des Testers sowie von individuellen Merkmalen der Testperson beeinflusst wird, die oben ermittelten Werte zur Testgenauigkeit können somit nur einen groben Anhaltspunkt für das eigene clinical reasoning bieten.

Literatur

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