Der Lever sign Test - Klinischer Einsatz und Ergebnisinterpretation
Der nachfolgende Beitrag beleuchtet die diagnostische Güte des Lever sign Tests. Beiträge zum Lachman Test, zur vorderen Schublade und zum Pivot shift Test habe ich bereits in sehr ähnlicher Weise verfasst. Zwischen den Texten gibt es starke Überschneidungen, da sie sich zu einem großen Teil der gleichen Literatur bedienen.
Wie bereits in den vorherigen Artikeln, möchte ich auch an dieser Stelle festhalten, dass ich kein Statistiker, Forscher oder besonders erfahrener Spezialist auf dem Gebiet der manuellen Diagnostik am Kniegelenk bin. Ich bin seit etwas mehr als einem Jahr Physiotherapeut mit orthopädischem Schwerpunkt und recherchiere aktuell zu Diagnostik und Physiotherapie bei verschiedenen Kniegelenksproblematiken. Dieser Artikel ist mein Versuch, diagnostische Kennzahlen aus der aktuellen Sekundärliteratur mit den mir zur Verfügung stehenden Ressourcen pragmatisch aufzuarbeiten und praktisch anwendbar zu machen.
Ich möchte auch darauf hinweisen, dass es, um Literatur zur Güte von klinischen Tests verstehen zu können, einiger Grundbegriffe bedarf. Dazu gehören: Validität, Sensitivität (Sn.), Spezifität (Sp.), Positive Predictive Value (PPV) oder Positiver Vorhersagewert, Negative Predictive Value (NPV) oder Negativer Vorhersagewert, Positive Likelihood Ratio (LR+), Negative Likelihood Ratio (LR-), Reliabilität, Kappa Wert (k) und ein paar mehr. Diese Begriffe sind online vielerorts auf Englisch und Deutsch besser erklärt, als ich es hier in diesem Rahmen könnte.
Der Test
Der Lever sign Test (bzw. das Lever sign oder Lelli’s Test) ist ein relativ neuer Test, der bei der Diagnostik von vorderen Kreuzbandrupturen (VKB-Rupturen) helfen soll (Lelli et al., 2016).
Detaillierte und gut verständliche Instruktionen zur genauen Durchführung des Lever sign Tests sind in folgenden Videos und Artikeln zu finden: Lelli et al. (2016), Physiotutors (2016), The Knee Resource (2017), Bronstein und Schaffer (2017) und Koster et al. (2018).
Der Testablauf wird erstmals in einer Arbeit von Lelli et al. im Jahr 2014 und noch einmal im Jahr 2016 formal beschrieben: Der Patient liegt mit dem Rücken auf einer harten Unterlage. Die Untersucherin formt mit einer Hand eine Faust und legt diese unter die proximale Tibia des Patienten. Anschließend übt sie mit der freien Hand eine zur Unterlage gerichtete Kraft auf den distalen Femur des Patienten aus. Diese Kraft soll bei intaktem VKB auf das Tibiaplateau übertragen werden. Die zuvor platzierte Faust fungiert nun wie ein Drehpunkt für die Tibia, wodurch sich letztendlich, bei biomechanisch suffizientem VKB, die Ferse des Patienten von der Unterlage hebt.
Der Test ist positiv, wenn die Ferse nicht über den beschriebenen Druck am distalen Femur von der Unterlage abgehoben werden kann (Lelli et al., 2016).
An dieser Stelle soll kurz vor falsch positiven Ergebnissen durch das Benutzen einer zu weichen Unterlage gewarnt werden. Unter folgender Referenz ist ein veranschaulichendes Video zu der Problematik zu finden: The Knee Resource (2017).
Diagnostische Genauigkeit des Lever sign Tests
Lelli et al. (2016)
Versucht man die diagnostische Genauigkeit des Lever sign Tests auf Basis der aktuellen Fachliteratur zu erheben, so empfiehlt es sich, mit der Arbeit von Lelli et al. zu beginnen. Basierend auf einem prospektiven Studiendesign, mit MRT als Referenzstandard, ermitteln Lelli und Kollegen eine exzellente diagnostische Genauigkeit für den Test: Sn.=100%. Im Zuge der Studie wurden insgesamt 400 Probanden in vier Gruppen (akute Komplettrupturen, chronische Komplettrupturen, akute Teilrupturen und chronische Teilrupturen) aufgeteilt und von einem Tester untersucht.
Einige Charakteristika der Arbeit, die einen an der Verlässlichkeit bzw. Generalisierbarkeit der Ergebnisse zweifeln lassen sollten, sind zu nennen. Unter anderem gab es nur einen Tester, die Härte der verwendeten Liegefläche für die Probanden ist nicht klar beschrieben, Ausmaß und Ablauf der Verblindung lassen sich nicht eindeutig nachvollziehen und mögliche Verzerrungseffekte durch den Einsatz einer VKB-Testbatterie am betroffenen Bein scheinen im Studiendesign nicht adäquat beachtet oder sind zumindest im Text nicht transparent beschrieben.
Auch wenn die Ergebnisse von Lelli et al. erwähnenswert sind, so eignen sie sich aus beschriebenen Gründen nur bedingt für einen aussagekräftigen Schluss auf die diagnostische Güte des Tests. Nachfolgend fasse ich deswegen meine Ergebnisse zu 6 rezenten Übersichtsarbeiten, welche deutlich robustere Ergebnisse liefern, zusammen.
Reiman et al. (2018)
In einer SR und MA aus dem Jahr 2018 versuchen Reiman und Kollegen die diagnostische Genauigkeit des Lever sign Tests auf Basis der damals verfügbaren Primärliteratur zu ermitteln. Insgesamt 6 Arbeiten sind in die MA eingeschlossen. MRT und Arthroskopie sind Referenzstandards. Daten von Untersuchungen an anästhesierten Patienten werden in der Studie mit ausgewertet. Es wird nicht zwischen Partial- und Komplettrupturen differenziert. Daten von Probanden mit akuten und chronischen VKB Verletzungen sind gepoolt. Eventuell vorliegende Begleitverletzungen werden in der Analyse nicht berücksichtigt. Nur zwei der analysierten Studien erreichen in der QUADAS-Checkliste ein niedriges Verzerrungsrisiko und damit eine hohe Qualität.
Da sich die ermittelten Kennzahlen zur diagnostischen Genauigkeit des Lever sign Tests in Arbeiten mit hoher und mit niedriger Qualität deutlich unterschieden, ermitteln die Autoren jeweils separate gepoolte Werte. Die gepoolten Kennzahlen zur diagnostischen Genauigkeit aus Untersuchungen mit niedrigem Verzerrungsrisiko und MRT als Referenzstandard (nur zwei Arbeiten) lauten wie folgt: Sn. 77% [95% CI, 55-90]; Sp. 91% [95% CI, 55–99]; LR+ 13,1 [95% CI, 1,9–52,4]; LR- 0,28 [95% CI, 0,14–0,46].
Mit Verweis auf die eingeschränkte Qualität und Quantität der analysierten Literatur rufen Reiman et al. (2018) zur vorsichtigen Interpretation der gewonnenen Ergebnisse auf. Die Autoren mutmaßen jedoch, dass sich der Lever sign Test besonders wegen der einfachen Durchführbarkeit als klinisch wertvoll erweisen könnte.
Koster et al. (2018)
In einer narrativen Review aus 2018 argumentieren Koster et al. ebenfalls, dass sich der Lever Sign Test aufgrund der einfachen Durchführbarkeit im klinischen Alltag als nützlich erweisen könnte. Die Autoren weisen aber auch darauf hin, dass bisherige Ergebnisse zur diagnostischen Güte des Tests erst mit weiteren robusten Untersuchungen unterfüttert werden müssen.
Abruscato et al. (2019)
Abruscato et al. nehmen sich in einer SR und MA aus dem Jahr 2019 derselben Fragestellung an. Insgesamt werden 8 Studien ausgewertet. MRT und Arthroskopie sind Referenzstandards. Es wird nicht zwischen akuten und chronischen VKB-Verletzungen differenziert. Exklusionskriterien bezüglich Begleitverletzungen variieren stark zwischen den untersuchten Arbeiten. Testresultate von Probanden mit Partial- und Komplettrupturen sind gepoolt. Nach Abruscato et al. gibt es zum Zeitpunkt ihrer Analyse nicht genug Daten, um individuelle diagnostische Kennzahlen für den Lever sign Test an anästhesierten und wachen Probanden zu berechnen. In der Arbeit werden Daten von anästhesierten und wachen Individuen somit zusammengefasst. Das Verzerrungsrisiko wird mit dem QUADAS-Tool bewertet. Nur 3 von den 8 Arbeiten erreichen mehr als 10/14 Punkten und damit ein niedriges Verzerrungsrisiko.
Es werden eine gepoolte Sn. von 77% [95% CI: 56–90] und eine gepoolte Sp. von 90% [95% CI: 77–96] ermittelt. Die ermittelte LR- liegt bei 0,22 [95% CI: 0,09–0,57], die ermittelte LR+ bei 6,60 [95% CI: 2,48–17,59].
Die Autoren plädieren für mehr Forschung zur diagnostischen Genauigkeit des Lever sign Tests. Sie sprechen sich zudem dafür aus, dass Arbeiten in Zukunft keine anästhesierten Probanden und mehr weibliche Individuen inkludieren sollten.
Sokal et al. (2022)
In einer rezent veröffentlichten SR und MA kritisieren Sokal et al. (2022) die Methodik früherer Übersichtsarbeiten und versuchen mit einer bivariaten diagnostischen random-effects MA hochwertigere Ergebnisse zu erhalten. 9 Arbeiten mit Daten zum Lever sign Test werden dabei von den Autoren analysiert. Sie bewerten die Studienqualität mit dem QUADAS-2 Tool. Arthroskopie, Arthrotomie und MRT sind Referenzstandards. Studien an Probanden unter Anästhesie oder mit multiplen Knieverletzungen sind von dieser Review ausgeschlossen.
Die Ergebnisse für den Lever sign Test bei Nutzen eines bivariaten Modells und Zusammenfassen von Testungen an Probanden mit Partialrupturen, Komplettrupturen, akuten Verletzungen und post-akuten Verletzungen lauten wie folgt: Sn. 83% [95% CI: 68-92]; Sp. 91% [95% CI: 83–95]; LR+ 9,66 [95% CI: 5,01-17,30]; LR- 0,18 [95% CI: 0,09-0,34]. Der Lever sign Test erreicht in der bivariaten Analyse (BA) insgesamt eine ähnliche Sn. und deutlich höhere Sp. als die vordere Schublade und der Lachman Test. Der Lever sign Test erzielt in der BA zudem die niedrigste LR- von allen untersuchten Tests.
In der univariaten Analyse (UA) erreicht der Lever sign Test mit Abstand die höchste Sn., bleibt in Bezug auf die Sp. aber vergleichbar mit allen anderen untersuchten VKB-Tests (Sn. 98% [95% CI: 88-100]; Sp. 93% [95% CI: 86–96]; LR+ 4,56 [95% CI: 2,79-7,45]; LR- 0,15 [95% CI: 0,09-0,26]). In der UA erreicht die LR- des Lever sign Tests nochmal niedrigere Werte als in der BA und liegt damit deutlich niedriger als die LR- der anderen Tests.
Tanaka et al. (2022)
In einer weiteren SR und MA zur diagnostischen Genauigkeit von VKB-Tests versuchen Tanaka et al. (2022) die Testgenauigkeit im Akut-Setting (Verletzung nicht älter als 6 Wochen) zu ermitteln. MRT und Arthroskopie werden als Referenzstandard akzeptiert. Insgesamt werden 8 Arbeiten mit dem QUADAS-2 Tool bewertet und analysiert. Daten von Untersuchungen an Probanden mit Gonarthrose, diagnostizierter Laxität und Meniskusverletzungen sind nicht analysiert. Arthrometrie ist als weiteres Ausschlusskriterium angegeben, zumindest eine Studie mit anästhesierten Probanden ist aber in der Analyse inkludiert. Daten von Probanden mit Partial- und Komplettrupturen werden gepoolt.
Für den Lever sign Test ermitteln die Autoren folgende Ergebnisse: Sn. 82% [95% CI: 76–87], Sp. 88% [95% CI: 82–93], LR+ 6,49 [95% CI: 3,92-10,73]; LR- 0,21 [95% CI: 0,11-0,40]. Der Lever sign Test erreicht eine leicht niedrigere LR+ und Sp. als Lachman Test und vordere Schublade. Sn. und LR- sind hingegen in etwa gleich. Aufgrund der ermittelten Testgüte empfehlen die Autoren dennoch explizit den Lever sign Test für den Ausschluss einer VKB-Ruptur und den Pivot shift Test für das Bestätigen einer Ruptur. Sie diskutieren des Weiteren, dass eine Kombination aus allen vier gängigen VKB-Tests (vordere Schublade, Lachman Test, Pivot shift Test und Lever sign Test) die diagnostische Genauigkeit der physischen Untersuchung weiter verbessern könnte.
Huang et al. (2022)
In der neuesten SR und MA zu der Thematik untersuchen Huang und Kollegen den Wert verschiedener klinischer Tests in der Diagnostik von VKB-Verletzungen. MRT und Arthroskopie sind laut Abstract erwünschte Referenzstandards, jedoch erfüllen nicht alle eingeschlossenen Arbeiten diese Vorgaben. Es werden ohne Begründung nur Arbeiten mit Veröffentlichung zwischen dem 1. Jänner 2010 und dem 1. Mai 2021 in der Analyse inkludiert. Ob und wie Daten von wachen und anästhesierten Probanden, von verschiedenen Testvarianten, von Arthrometrie gestützten Testungen und von Testungen an Probanden mit Begleitverletzungen, akuten oder chronischen VKB-Verletzungen sowie mit Komplett- oder Partialrupturen des VKBs zusammengefasst werden, wird nicht transparent beschrieben. Die Qualität der Primärstudien wird mit dem QUADAS-2 Tool bewertet. Es sind 6 Artikel mit Daten zum Lever sign Test ausgewertet.
Folgende Kennzahlen ergeben sich für den Lever sign Test: Sn. 79% [95% CI: 75-83], Sp. 92% [95% CI: 87-95], LR+ 9,56 [95% CI: 2,76-33,17], LR- 0,23 [95% CI: 0,12-0,46].
Reliabilität
In keiner der gefundenen Übersichtsarbeiten wird die Reliabilität des Lever sign Tests analysiert.
Erwähnenswert ist dennoch eine gefundene Kohortenstudie aus dem Jahr 2018, welche von einer nahezu perfekten Übereinstimmung bzw. einem Kappa-Wert von 0,82 für die Interrater Reliabilität berichtet (Lichtenberg et al., 2018).
Übertrag in den klinischen Alltag
Auch wenn dieser Artikel keine systematische oder gar vollständige Analyse der existierenden Literatur darstellt, so können aus meiner Sicht an dieser Stelle doch ein paar vertretbare, wenngleich vorsichtige, Schlüsse für das eigene klinische Handeln gezogen werden.
Zunächst sollte jedoch festgehalten werden, dass die Literatur rund um den Lever sign Test deutlich jünger und weniger umfangreich ist als jene zu den anderen, bereits etablierten VKB-Tests. Dieser Umstand sollte bei der Ergebnisinterpretation im Clinical Reasoning Prozess unbedingt Beachtung finden. Zudem muss auch auf den Umstand hingewiesen werden, dass die beleuchteten Arbeiten unterschiedliche Inklusions- und Exklusionskriterien anwenden und somit unterschiedliche Kohorten untersuchen. Deutliche Variation gibt es im Umgang mit folgenden Faktoren: (1) vergangene Zeit seit Trauma, (2) Partialrupturen, (3) Begleitverletzungen und (4) Anästhesie.
Versucht man trotzdem eine möglichst allgemeingültige und universell anwendbare Handlungsgrundlage zu formulieren, so kann folgende Aussage getätigt werden: Basierend auf Daten aus mehreren rezent veröffentlichten Übersichtsarbeiten kann ein positives Ergebnis beim Lever sign Test, mit etwas Vorbehalt, als Indiz für eine Verletzung des VKBs angesehen werden (Reiman et al., 2018; Koster et al., 2018; Abruscato et al., 2019; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022). Die Ergebnisse der beleuchteten Metaanalysen lassen dabei mehrheitlich einen moderaten bis großen Shift in prä- zu post-Test Wahrscheinlichkeit (bei Einteilung nach Jaeschke et al., 1994) erwarten (Reiman et al., 2018; Abruscato et al., 2019; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022). Die diagnostische Genauigkeit eines negativen Testergebnisses scheint schlechter und erzeugt (erneut bei Einteilung nach Jaeschke et al. 1994) in den analysierten Übersichtsarbeiten mehrheitlich einen kleinen Shift in prä- zu post-Test Wahrscheinlichkeit (Reiman et al., 2018; Abruscato et al., 2019; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022). Einzig Sokal et al. (2022) beschreiben Daten, die auf einen moderaten Shift bei negativem Testergebnis hinweisen würden. Diese Aussagen gelten für wache PatientInnen bei Verdacht auf eine akute oder post-akute VKB-Verletzung, auf eine Partial- oder Komplettruptur, mit Verdacht auf leichte oder ohne Begleitverletzungen am Kniegelenk. Die Güte des Lever sign Tests scheint auf Basis der besprochenen Literatur nicht von der vergangenen Zeit seit der VKB-Verletzung abhängig zu sein.
Bei Vorliegen von multiplen Begleitverletzungen am Kniegelenk mit ausgeprägter multidirektionaler Instabilität, kann diese Testgüte aus meiner Sicht nicht unbedingt erwartet werden. Rein theoretisch hat jede Form von Begleitverletzung am Kniegelenk das Potenzial, die Aussagekraft eines VKB-Tests zu beeinflussen.
Wie können diese Erkenntnisse klinisch anwendbar gemacht werden?
Wie schon in den vorherigen Artikeln kann auch an dieser Stelle auf die Faustregel von McGee (beschrieben in McGee (2002)) zurückgegriffen werden. Ohne großen Rechenaufwand können mit ihr aus LRs prozentuelle Veränderungen von prä- zu post-Test Wahrscheinlichkeit geschätzt werden.
Auf Basis der besprochenen Literatur ergeben sich bei Testung von wachen PatientInnen mit vermuteter akuter oder post-akuter VKB-Verletzung, vermuteter Partial- oder Komplettruptur, mit leichten oder ohne Begleitverletzungen am Kniegelenk folgende pragmatische Richtwerte: Ein positives Ergebnis beim Lever sign Test erhöht die Wahrscheinlichkeit auf das Vorliegen einer VKB-Ruptur um rund 40%; ein negatives Ergebnis beim Lever sign Test verringert die Wahrscheinlichkeit auf das Vorliegen einer VKB-Ruptur um rund 30%. Diese Werte sind bewusst grob geschätzt und dienen lediglich als Anhaltspunkte im Clinical Reasoning Prozess. Sie ergeben sich aus den Durchschnittswerten der ermittelten LRs aus Reiman et al. (2018), Abruscato et al. (2019), Sokal et al. (2022), Tanaka et al. (2022) und Huang et al. (2022). Die Qualität der einzelnen Literaturarbeiten wird bei diesen Schätzwerten nicht berücksichtigt. Zu erwähnen sei an dieser Stelle auch, dass bei der Faustregel nach McGee ein durchschnittlicher Fehler von 4% und maximaler Fehler von 10% bei prä-Test Wahrscheinlichkeiten zwischen 10% - 90% in Kauf genommen werden (McGee, 2002).
Im Hinblick auf die vergleichsweise jungen Forschungsergebnisse rund um den Lever sign Test möchte ich nochmals zur Vorsicht beim Clinical Reasoning aufrufen.
Wie schneidet der Lever sign Test im Vergleich zu anderen VKB-Tests ab?
Im Vergleich zur vorderen Schublade und dem Lachman Test erreicht der Lever sign Test in der beleuchteten Sekundärliteratur eine ähnliche bis leicht überlegene diagnostische Güte; in Bezug auf die LR+ ist der Lever sign Test dem Pivot shift Test leicht unterlegen bis ebenbürtig; in Bezug auf die LR- ist der Lever sign Test dem Pivot shift Test erwartungsgemäß deutlich unterlegen (Reiman et al., 2018; Koster et al., 2018; Abruscato et al., 2019; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022).
Conclusio und Tipps für die Praxis
Der Lever sign Test kann bei Verdacht auf eine VKB-Verletzung eingesetzt werden (Reiman et al., 2018; Koster et al., 2018; Abruscato et al., 2019; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022), sollte aber aus meiner Sicht nicht grundlos die klassischen, bereits etablierten und deutlich umfangreicher untersuchten VKB-Tests ersetzen.
Es scheint sinnvoll den Test dann einzusetzen, wenn klassische VKB-Tests nicht oder nur schwer durchführbar sind. Dies kann beispielsweise bei PatientInnen mit sehr schweren und voluminösen Extremitäten der Fall sein, aber auch dann, wenn der Untersucher/ die Untersucherin besonders kleine Hände hat (Reiman et al., 2018; Abruscato et al., 2019).
Basierend auf den Likelihood Ratios aus den besprochenen Literaturarbeiten ergeben sich, bei Vorliegen einer prä-Test Wahrscheinlichkeit zwischen 10-90% und einer Testung von wachen PatientInnen mit vermuteter akuter oder post-akuter VKB-Verletzung, vermuteter Partial- oder Komplettruptur, mit leichten oder ohne Begleitverletzungen am Kniegelenk folgende Richtwerte: ein positives Ergebnis beim Lever sign Test erhöht die Wahrscheinlichkeit auf das Vorliegen einer VKB-Ruptur um rund 40%; ein negatives Ergebnis beim Lever sign Test verringert die Wahrscheinlichkeit auf das Vorliegen einer VKB-Ruptur um rund 30% (Reiman et al., 2018; Abruscato et al., 2019; Sokal et al., 2022; Tanaka et al., 2022; Huang et al., 2022). Da der Lever sign Test relativ neu ist, ist die entsprechende Literatur deutlich jünger und weniger umfangreich als jene zu den bereits etablierten VKB-Tests. Dieser Umstand sollte bei der Ergebnisinterpretation im Clinical Reasoning Prozess unbedingt Beachtung finden.
Wenn möglich, den Test mit genauer Anamnese (Carey & Shea, 2015) und anderen VKB-Tests kombinieren (Tanaka et al., 2022).
Der Härte der Auflagefläche (z.B. Polsterung der Therapieliege) ist im Rahmen der Testung unbedingt Beachtung zu schenken; diese sollte nach Möglichkeit standardisiert sein (The Knee Resource, 2017; Reiman et al., 2018).
Zuerst die nicht-betroffene Seite als Referenz testen (Schraeder et al., 2010).
Vor dem Test auf Begleitverletzungen untersuchen: v.a. Verletzungen an medialem Seitenband, lateralem Seitenband, hinterem Kreuzband und den Menisci sind zu beachten;
Es muss davon ausgegangen werden, dass die Testgenauigkeit von der Fähigkeit und Erfahrung des Testers sowie von individuellen Merkmalen der Testperson beeinflusst wird. Die oben ermittelten Werte zur Testgenauigkeit können somit nur einen groben Anhaltspunkt für das eigene Clinical Reasoning bieten.
Literatur
Abruscato, K., Browning, K., Deleandro, D., Menard, Q., Wilhelm, M., & Hassen, A. (2019). DIAGNOSTIC ACCURACY OF THE LEVER SIGN IN DETECTING ANTERIOR CRUCIATE LIGAMENT TEARS: A SYSTEMATIC REVIEW AND META-ANALYSIS. International journal of sports physical therapy, 14(1), 2–13.
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Carey, J. L., & Shea, K. G. (2015). AAOS Clinical Practice Guideline: Management of Anterior Cruciate Ligament Injuries: Evidence-Based Guideline. The Journal of the American Academy of Orthopaedic Surgeons, 23(5), e6–e8. https://doi.org/10.5435/JAAOS-D-15-00095
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